Ehrfurcht – Winter in Schweden
Ehrfurcht – Winter in Schweden

Ehrfurcht – Winter in Schweden

Jetzt haben wir ihn – den schwedischen Winter.
Seit gestern schneit es fast ununterbrochen. Dazu passend, ein giftiger Sturm aus Nordost. Auf den Straßen in der Region geht fast nichts mehr. Die Schweden nehmen es gelassen. Die Behörden haben rechtzeitig gewarnt.
Es ist gut, dass wir im Moment nicht gezwungen sind, den Hof zu verlassen.

Trotzdem, auch heute mache ich meine Wanderung zum Vättern-See. Dann eben durch den Wintersturm.
Der sonst einfache Weg wird anspruchsvoll. Schneewehen machen das Laufen mühsam und der heftige Nordost schneidet die Schneekristalle ins Gesicht. Schon von Weitem ist die heftige Brandung des Sees laut hörbar.
Der Weg, die Bäume, die Pflanzen, die Wolken und Tiere die ich sonst bei meinen regelmäßigen Wanderungen beobachte sind verschwunden. Die Eindrücke reduzieren sich und die Gedanken bewegen sich weg vom Ich und gehen ins vermeintlich Leere.

Ehrfurcht nennt man dieses Gefühl. Ich hatte Ehrfurcht vor den Elementen der Natur.

Ich habe mich nach meinem Wintersturm-Erlebnis etwas näher mit der Begrifflichkeit „Ehrfurcht“ beschäftigt. *

Ehrfurcht ist ein interessanter Ausdruck. Furcht hat im Deutschen heutzutage etwas Negatives. Furcht,- da sagt man, man hat Angst vor etwas, aber das ist nicht die Ursprungsbedeutung des Wortes „Furcht“. Man spricht ja auch von der Gottesfurcht.

In früheren Zeiten war Furcht nicht etwas, wo man Angst hatte, sondern Furcht ist etwas, was irgendwo etwas tief Ergreifendes ist. So ist Ehrfurcht, man hat eine gewisse Liebe, eine Hochachtung, einen Respekt und zwar einen sehr tiefen Respekt.

Und Ehre steht hier für etwas Großartiges. Ursprünglich war Ehre bezogen auf Gott, bezogen auf das Göttliche. Man kann dann einem Menschen die Ehre erweisen, indem man ihm Respekt zollt. Und so ist Ehrfurcht etwas, was schwer erklärbar ist, was aber jeder versteht, der mal eine tiefe spirituelle Erfahrung gehabt hat.

Wenn du in der Tiefe der Meditation das Göttliche spürst, dann hast du Ehrfurcht. Wenn du ein Naturerlebnis hast, einen wunderschönen Baum siehst, auf dem Berg bist, ins Tal hinunter schaust, da hast du Ehrfurcht. Oder wenn du in der Gegenwart von einem Menschen bist, wo du merkst, der ist vollkommen uneigennützig und der hat eine Ausstrahlung und eine Demut und gleichzeitig eine innere Kraft und Stärke, du spürst, hinter diesem Menschen ist irgendwo ein Göttliches, da ist Ehrfurcht.

Wenn du in sakrale Räume gehst, ist dort auch Ehrfurcht. Aber echte Ehrfurcht ist immer auch verbunden mit Liebe, echte Ehrfurcht ist eben nicht verbunden mit Angst, also mit Enge, sondern Ehrfurcht ist im Gegenteil etwas, was dich in die Weite führt, Ehrfurcht ist etwas, was dich erfahren lässt, wer du wirklich bist.

Es gibt Eindrücke, die uns erschaudern lassen – Momente, in denen sich das Universum einen Spalt zu öffnen scheint und wir uns einer Macht gegenüber wähnen, die uns innehalten lässt. Wir empfinden dann jene Mischung aus Staunen und Respekt, Bewunderung und Beklommenheit, die man Ehrfurcht nennt.

Ehrfurcht wird durch Erfahrungen ausgelöst, die jenseits unserer Kontrolle und unseres Vorstellungsvermögens liegen. Bei solchen Erlebnissen geht es im Kern darum, die eigene Begrenztheit zu erkennen. Den Blick von sich selbst wegzulenken, hin zu einer Sache, die größer ist als wir. Unbedeutend fühlten wir uns dann, wie kleine Körnchen von Materie in der Unermesslichkeit des Universums. Ehrfurcht macht bescheiden.

Ehrfurcht ist entscheidend für unser Wohlbefinden – genau wie Freude, Zufriedenheit und Liebe. Die Forschung deutet darauf hin, dass es enorme gesundheitliche Vorteile hat.

Es hat auch psychologische Vorteile. Viele von uns haben eine kritische Stimme in unserem Kopf, die uns sagt, dass wir nicht schlau, schön oder reich genug sind. Ehrfurcht scheint dieses negative Selbstgespräch zu beruhigen.

Ehrfurcht wird als Mittel gesehen, um unseren inneren Kritiker zum Schweigen zu bringen. Ehrfurcht, so glaubt man, ist „das Fehlen von Selbstbezogenheit“. Dies sei im Zeitalter von Social Media besonders kritisch. Wir befinden uns in diesem kulturellen Moment des Narzissmus und der Selbstscham, der Kritik und des Anspruchs. Ehrfurcht bringt uns da raus. Es tut dies, indem es uns hilft, aus unseren eigenen Köpfen herauszukommen und unseren Platz im größeren Kontext, unseren Gemeinschaften, zu erkennen.

Ablenkung ist ein Feind der Ehrfurcht. Es behindert die Konzentration, die für das Erreichen von Ehrfurcht unerlässlich ist. Wir kultivieren Ehrfurcht durch Interesse und Neugier.
Achtsamkeit hilft uns, uns zu konzentrieren und verringert die Kraft von Ablenkungen.  Und ‌einige Studien zeigen‌, dass Menschen, die meditieren und beten, auch mehr Ehrfurcht empfinden.

Die Zeit damit zu verbringen, langsamer zu werden, tief zu atmen und nachzudenken – hat – zusätzlich zu ihren eigenen Vorteilen – den zusätzlichen Vorteil, uns auf Ehrfurcht vorzubereiten.

In Momenten der Ehrfurcht stößt unser mentales Konzept an seine Grenzen. Da gibt es etwas, das wir mit unseren kognitiven Kräften nicht ermessen, nicht durchdringen können. Diese Erfahrung kann Menschen verändern.

 

Übrigens: Am 07.Januar 2023 können wir den ersten Vollmond, auch Wolfsmond genannt, des Jahres beobachten. Eine schöne Gelegenheit für ein Ehrfurchts-Erlebnis.

 

* Quelle: How a Bit of Awe Can Improve Your Health by Hope Rees, The New York Times, 03.01.2023

 

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