„Nils Holgerssons wunderbare Reise durch Schweden“
„Nils Holgerssons wunderbare Reise durch Schweden“

„Nils Holgerssons wunderbare Reise durch Schweden“

Während unseres Aufenthaltes in der alten Heimat in Sachsen im Herbst letzten Jahres, konnte ich dort viele Male am Himmel wieder die keilförmigen Formationen der Wildgänse auf ihren Flug nach Süden beobachten.
Schon lange bevor man die großen Wildgänse am Himmel sieht, hört man sie schon von Weitem durch ihr unverwechselbares lautes Schnattern und Quäken. Der Leitvogel an der Spitze hat die meiste Erfahrung und die meiste Kraft. Er wird regelmäßig durch einen anderen Vogel abgelöst, damit sich dieser wieder erholen kann. Auf diese Art legen die Gänse tausende Kilometer zwischen Sommer- und Winterquartier zurück. Immer und immer wieder. Ihr ganzes Leben lang.

 

 

Durch unser Leben in Schweden sensibel für die nordische Kultur geworden, musste ich unweigerlich an die Geschichte über “Nils Holgerssons wunderbare Reise durch Schweden” von der schwedischen Schriftstellerin Selma Lagerlöf denken.
Ich grüßte jedes Mal still die Gänseschar und die Anführerin des Vogelzugs, für mich die alte und ehrwürdige Akka von Kebnekaise aus der Geschichte. Konnte ich mir doch jetzt vorstellen, was diese Tiere auf ihrem entbehrungsreichen Flug vielleicht erlebt haben.

 

Denkmal für die Leitgans Akka von Kebnekaise in Smygehuk

 

Zur Erinnerung möchte ich nachfolgend kurz die Handlung beschreiben:
Auf einem kleinen Bauernhof ganz im Süden von Schweden lebt der 14-jährige Nils Holgersson. Nils bereitet seinen Eltern großen Kummer, weil er faul und bösartig ist: unter anderem quält und scheucht er ständig die Tiere auf dem Hof. Eines Tages im zeitigen Frühjahr wird Nils zur Strafe für einen hinterhältigen Streich an einem Wichtelmännchen von ihm in einen kleinen Zwerg verwandelt. Den Hoftieren entgeht dies nicht und sofort wollen sie sich, von Rache getrieben, an dem Jungen vergreifen. Der zahme Gänserich Martin will sich zur selben Zeit den Wildgänsen anschließen, die in diesen Tagen aus dem Süden kommend zu ihren Brutgebieten in Lappland fliegen wollen. Weil Nils klein und leicht ist und der Gänserich ihm helfen möchte, hebt er mit dem Jungen auf dem Rücken einfach ab und beide begleiten von nun ab die Schaar Wildgänse auf ihrer Reise. Und damit beginnt das große Abenteuer, welches bis heute Generationen von Kindern begeistert.

 


Nils reist mit den Wildgänsen auf der Hausgans Martin, auf einem Adler, einem Storch, auf Krähen und einem Raben durch ganz Schweden bis in den Hohen Norden Schwedens, wobei er die Landesnatur, die Geschichte, die Kultur und die Städte Schwedens kennenlernt. Zugleich erlebt er mancherlei gefährliches Abenteuer, muss sich oft in moralischen Fragen entscheiden und bewährt sich dabei.
Im Herbst kehrt Nils mit den Wildgänsen aus Lappland zurück. Bevor sie über die Ostsee nach Pommern fliegen, schleichen sich Nils und der Gänserich Martin auf den Hof von Nils’ Eltern, die vom Kummer um ihren verschwundenen Sohn gezeichnet sind. Sie fangen den Gänserich und sind erleichtert, dass ihr Sohn bei seiner Flucht wenigstens nicht noch den Gänserich gestohlen hat, wie sie geglaubt hatten. Nun wollen sie ihn schlachten. Doch Nils will nicht zulassen, dass der Gänserich, zu dem er eine tiefe Freundschaft empfindet, getötet wird. Er besiegt seine Scham, dass er nur ein Wichtelmännchen ist, tritt dazwischen und wird in diesem Augenblick wieder ein Mensch.

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Anfang des 20.Jahrhunderts war in Schweden die Erzählung das wichtigste Lehrmittel in der Schule. Die renommiertesten Autoren und Künstler des Landes, darunter auch mehrere spätere Nobelpreisträger, wurden im Jahr 1900 vom Verband der Schwedischen Volksschullehrer gebeten, ihre Geschichten über die Geografie, die Natur und die Geschichte des Landes niederzuschreiben.

Nur das Beste war gut genug für die Kinder. Dies stärkte die Legitimität und Stellung der Folkskolan (Volksschule) in der Gesellschaft und zeugt davon, wie wichtig eine öffentliche Schule für die damalige kulturelle Elite war.

Eine der Autorinnen, Selma Lagerlöf, war selbst Lehrerin und in der schwedischen Erzählkunst aufgewachsen. Mit ihrem Erbe aus der Region Värmland und ihrer Verwandtschaft zu bedeutenden Literaten schuf sie ihr eigenes Genre, das von der Realität abwich und zur schwedischen Aufklärung und Romantik zurückkehrte. Im Jahre 1909 erhielt sie als erste Frau den Literatur-Nobelpreis.

 

Selma Lagerlöf, Gemälde von Carl Larsson, 1908

 

Die Tiere, die dachten, fühlten, sprachen und Ärger im menschlichen Sinne verursachten, marschierten zusammen mit Wichteln, Trollen und Riesen ein. Märchenfiguren, die mit den ewigen Herausforderungen des Lebens konfrontiert waren.

Ihr am häufigsten übersetztes Buch, in mehr als 60 Sprachen, ist auch das schwedischste. Nils Holgersson war ein großer Verkaufserfolg. Bereits im ersten Jahr wurden neben den für die Schule bestimmten Ausgaben 100.000 Exemplare verkauft. Es wurde weit über die Grenzen Schwedens bekannt und gehört heute zur Weltliteratur.

 

Nils Holgersson-Abbildung auf einem Schiff der TT-Line

 

Ihre Pädagogik hält bis heute an. Nils Holgersson wird nicht mit Strafen und Rohrstock erzogen. Innerhalb der Struktur, die im Leben als Wicht in der Gänseherde aufrechterhalten wird, wird er stattdessen mit neuen Perspektiven und Herausforderungen konfrontiert, die ihm die Gelegenheit geben, gute Taten zu vollbringen.

Für die Lehrerin und Autorin ging es darum, die Aufmerksamkeit ihrer Leser zu fangen, wie es die Alten taten, als sie den Kindern vor dem Kamin Geschichten erzählten, und um ein leicht verständliches Normsystem auszudrücken.

Grundlegend für den Roman ist die Idee, Schweden aus der Vogelperspektive zu schildern. Hierdurch gelingt es der Autorin, ganz Schweden anschaulich darzustellen.

Das Zusammenspiel von Mensch und Natur ist ein wichtiges Thema im Buch. Der Respekt der Romantik vor dem Wilden und Ungezähmten trifft auf das Vertrauen der Aufklärung in den Wunsch des Menschen, Wohlstand aus der Natur zu ziehen – aus der Erde, dem Wald und dem Erz. Die Rechte der Tiere auf ihre Wildnis müssen respektiert werden, und der Umgang des Menschen mit Haustieren sollte mehr um Fürsorge und Empathie als um Herrschaft und Ausbeutung gehen.

Das Leben enthält sowohl Trauer und Kummer als auch Freude und Erfolge. Es geht gut für denjenigen, der nett zu Tieren ist und die Schwachen und Bedürftigen schützt. Nichts ist stärker als die Liebe der Eltern zu ihren Kindern. Das gilt sowohl für Tiere als auch für Menschen, und kein Schmerz ist schwerer zu bewältigen als der Verlust des eigenen Nachwuchses.

Wer wirklich verstehen möchte, wie das Land Schweden von seiner Geografie geprägt ist und der Schwede von seiner Landschaftsidentität, sollte Nils Holgersson und seine Reise durch das Land gelesen haben. Es macht Lust auf  Schweden und man kann auch heute noch viele dieser Orte besuchen und sich auf die Spuren von Nils Holgersson begeben.

Es gibt unzählige Versionen dieses Romans. Bilderbücher für die Kleinsten, für Kinder bearbeitete, illustrierte Ausgaben oder ich empfehle für Erwachsene die übersetzte Orginalfassung von 1906. Und natürlich die Animationsfilme. Der bekannteste ist vielleicht die japanische Zeichentrickserie aus den 1980’er Jahren. Die erste Verfilmung von 1955 stammt aus der Sowjetunion. Beide kann man sich z.B. auf YouTube ansehen.

 

 

 

 

 

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