Jeder von uns hat einen besonderen Ort in der Natur, an dem er neue Kraft schöpfen kann – sei es bewusst oder unbewusst. Ein Platz, der Geborgenheit vermittelt, innere Ruhe schenkt und Energie spendet. Oft liegen solche Orte näher, als man denkt, und manchmal entdeckt man sie erst mit der Zeit.
In diesem Jahr haben wir in unserer Umgebung einen solchen besonderen Ort gefunden: die Skaga Stavkyrka (dt.: Skaga Stabkirche). Diese beeindruckende kleine Stabkirche liegt am Rande des Nationalparks Tiveden in der schwedischen Provinz Västergötland. Stabkirchen sind einzigartige Meisterwerke skandinavischer Baukunst aus dem Mittelalter. Sie bestehen hauptsächlich aus Holz und zeichnen sich durch ihre charakteristische Bauweise aus: schlanke Holzsäulen – die sogenannten „Stäbe“ – tragen das Dach.
Hendrik, ein Parkranger, empfahl uns während eines Besuchs im Nationalpark Tiveden diesen besonderen Ort. „Am besten fahrt ihr am Ortsrand von Undenäs los – ihr wisst schon, das kleine Dorf mit der imposanten, viel zu großen Backsteinkirche. Von dort geht es links ab und etwa 10 Minuten auf einer schmalen Asphaltstraße durch dichte Wälder Richtung Norden. Danach biegt ihr rechts auf eine noch schmalere Schotterstraße ab (hoffentlich kommt euch dort kein Fahrzeug entgegen). Nach weiteren 5 Minuten durch den Wald erreicht ihr direkt die Kirche.“
So fanden wir diesen magischen Ort.
Die historische und spirituelle Bedeutung
Schweden ist reich an heidnischen Kulturgütern wie Runensteinen und Steinkreisen. Im Zuge der Christianisierung wurden viele alte Kultstätten überbaut, was sich bis heute an vielen Orten wie der Skaga Stavkyrke nachvollziehen lässt.
Runensteine und andere Relikte der heidnischen Kultur spielten eine wichtige Rolle in der schwedischen Identität. Besonders im 19. Jahrhundert, geprägt von Nationalismus und Romantik, wurde die Wikingerzeit als glorreiches Erbe betrachtet. Viele dieser Monumente wurden bewusst erhalten, restauriert und erforscht.
Die Skaga Stavkyrka stammt aus dem 12. Jahrhundert und ist eine der wenigen erhaltenen Stabkirchen in Schweden. Ursprünglich wurde sie als christliche Kirche auf einem alten heidnischen Kultplatz errichtet, wodurch ihre spirituelle Bedeutung noch verstärkt wird. Der dunkle Holzbau und die umliegende Natur verleihen der kleinen Kirche eine erhabene, fast mystische Atmosphäre.
Besonders beeindruckend ist das harmonische Zusammenspiel von Natur und Architektur. Die alten Bäume, die die Kirche umgeben, wirken wie stille Wächter und vermitteln ein Gefühl von Beständigkeit und Schutz. Die Holzsäulen der Kirche symbolisieren Stabilität und die Verbindung zu etwas Höherem.
Ein Ort voller Geschichten und Legenden
Hier findet man keine äußere Pracht oder überragende Bedeutung. Dennoch zieht die Skaga Stavkyrka seit Jahrhunderten Menschen aus nah und fern an. Besucher verweilen hier in der Stille und im Frieden, bevor sie ihre Reise fortsetzen – oft kehren sie zurück, begleitet von neuen Gästen. Aber warum hat dieser Ort eine solche Anziehungskraft?
Die Antwort liegt in den Legenden, die sich um den niedrigen Hügel und die halb ausgetrocknete Quelle ranken. Die Volksphantasie hat hier seit jeher einen reichen Mythos gewebt, der viel älter ist als die Kirche selbst. Die Menschen kamen hierher, angelockt von Geschichten, die weniger mit dem Sichtbaren als mit der inneren Vision des Ortes zu tun hatten. Diese Legenden und Mythen geben der Skaga Stavkyrka eine spirituelle Dimension, die ihre historische und architektonische Bedeutung übersteigt.
Die Opferquelle und ihre uralte Tradition
Die Quelle, die „Opferquelle von Skagen“, ist ein weiterer faszinierender Bestandteil dieses Ortes. Ihre Ursprünge reichen so weit zurück, dass jede Zeitangabe spekulativ bleibt. Vermutlich wurde sie schon mit der ersten Besiedlung dieser Region als heilige Stätte verehrt. Im Zuge der Christianisierung versuchte man, dem traditionellen Opferkult christliche Heiligkeit zu verleihen. Statt heidnischen Gottheiten opferte man nun „dem Heiligen von Skagen“.
Doch dieser Wandel war nicht endgültig. Die Christianisierung Schwedens verlief, anders als in Mitteleuropa, vergleichsweise sanft und ließ viele heidnische Traditionen weiterbestehen. Besonders in abgelegenen Regionen wie dieser lebten alte Bräuche intensiver fort.
Die wechselvolle Geschichte der Kirche
Im 18. Jahrhundert war die Haltung der lutherischen Kirche gegenüber der Skaga Stavkyrka und der Opferquelle kritisch. Die Kirche wurde als „abscheuliches Götzenhaus“ bezeichnet. 1779 wurden die Gottesdienste eingestellt, und um dem Opferkult ein Ende zu setzen, ließ man die Kirche abtragen. Die Glocke wurde eingeschmolzen und zu Schlittschuhen verarbeitet, die Quelle mit Steinen verstopft.
Trotz dieser Zerstörung lebte die Idee einer neuen Kirche in den Herzen der Menschen weiter. 1960 wurde die Skaga Stavkyrka an ihrem ursprünglichen Standort neu errichtet, die Opferquelle wieder freigelegt. Doch das Schicksal blieb nicht barmherzig: Am 2. Januar 2000 wurde die Kirche bei einem Feuer vollständig zerstört. Bereits im Juni 2001 erfolgte der Wiederaufbau, und die Kirche wurde erneut geweiht.
Die einzigartige Atmosphäre der Skaga Stavkyrke
Die Skaga Stavkyrka begeistert nicht nur durch ihre Geschichte, sondern auch durch ihre symbolträchtige Gestaltung. Besonders erwähnenswert ist die Kanzel, die aus einem ausgehöhlten Baumstamm gefertigt ist. Über ihr schwebt ein kleiner, ca.10cm „großer“ silberner Fisch.
Dieses unscheinbare Detail könnte eine Verbindung zu alten heidnischen Ritualen darstellen, die an diesem Ort praktiziert wurden. In den angrenzenden Seen gefangene Fische waren eine durchaus beliebte Opfergabe.
In der nordischen Geschichte vermischten sich alte Bräuche und neue Glaubenssysteme häufig, was zu einzigartigen Symboliken führte. Der silberne Fisch könnte ebenso eine Hommage an die frühen Christen sein oder eine Erinnerung an die ursprüngliche Spiritualität dieses Ortes.
Dieser Ort, mit all seinen Geschichten, Legenden und seiner unvergänglichen Atmosphäre, scheint noch heute die widerspenstigen Heiden und die Gläubigen gleichermaßen anzusprechen.