In den Wäldern unserer Umgebung, teils nahe an Forstwegen, teils an fast unkenntlichen Pfaden tief im Wald, verbergen sich mehrere verlassene Sommerhäuser und kleine, leerstehende sowie verfallende Bauernhöfe. Sie sind Relikte einer vergangenen Zeit, die die Natur erbarmungslos zurückerobert.
An dem Haus mit verschlossenen Türen und intakten Fenstern bin ich auf meinen Wanderungen schon oft vorbeigelaufen. Durch ein längst verschwundenes kleines Hoftor und eine zugewucherte Fichtenallee blickte ich stets in einiger Entfernung stets auf eine geschlossene Haustür. Bislang konnte ich meine Neugier immer zügeln.
Doch eines Tages stand die Haustür weit offen. Etwas daran zog mich magisch an.
Beim Betreten des Hauses musste ich schon genau hinsehen, wohin man die Füße setzen konnte. Überall finden sich Berge von Müll, Überreste eines einst pulsierenden Lebens. Leere Verpackungen, alte Möbel und Haushaltsgeräte liegen wahllos verteilt. In manchen Räumen scheint der Versuch unternommen worden zu sein, Ordnung zu schaffen: Ecken sind halb leergeräumt, Schränke stehen offen, einige Müllsäcke wurden befüllt und dann offenbar vergessen. Deutsche Klassiker-Literatur liegt neben Pippi Langstrumpf auf teilweise durchgebrochenen Dielenbrettern. Auf einem Tisch verteilt liegt private Korrespondenz mit irgendwelchen regionalen Behörden neben Fotos einer glücklichen Familie.
Es wirkt, als hätten die Bewohner mitten im Aufräumen plötzlich beschlossen, alles aufzugeben und zu gehen. Und das muss bereits vor Jahrzehnten geschehen sein. Auf den herumliegenden Zeitungen prangten Schlagzeilen aus den 80er Jahren.
Das Haus erzählt Geschichten von Hoffnungen, Träumen und Zerfall. Doch was diesen Ort besonders macht, ist der Zustand, in dem er hinterlassen wurde: nicht sorgfältig verschlossen oder aufgeräumt, sondern chaotisch, als wären die Bewohner hastig und ohne Plan aufgebrochen.
Auffällig sind die leeren Alkoholflaschen, die sich fast überall finden lassen: in Küchen, auf Tischen, in Schlafzimmern und sogar in Schuppen oder Scheunen, sorgsam aufgestapelt neben der Außentoilette. Sie erzählen von exzessiven Nächten, vielleicht von Festen oder Einsamkeit, die in diesen abgelegenen Wäldern spürbar war. Das Haus wirkt, als sei es einst ein Zufluchtsort gewesen, ein Rückzugsort für Menschen, die dem Alltag entfliehen wollten und ihr Glück eine Zeit lang inmitten dieser wunderbaren Natur gefunden haben. Ein altes Klavier zeugt von fröhlichen und besinnlichen Stunden. Doch irgendwann scheint der Ort seine Anziehungskraft verloren zu haben – oder die Menschen verloren die Kraft, ihn weiter zu bewirtschaften oder instand zu halten.
Die Natur hat sich inzwischen ihr Terrain zurückerobert. Moose und Farne überwuchern verrottende Holzveranden, Dachbalken biegen sich unter dem Gewicht feuchten Laubs, und Tiere nutzen die verlassenen Gebäude als Unterschlupf. Ein zwischen Bäumen vergessener VW Käfer ist mit einer dicken Moosschicht bedeckt. Den langsamen Verfall stört kein Mensch. Doch inmitten dieses Verfalls haftet den Häusern eine seltsame Melancholie an – sie scheinen eingefroren in einem unvollendeten Moment.
In einigen dieser leerstehenden Häuser und Bauernhöfe, meist in kleinen Gewölben und Höhlen unter den Häusern oder Ställen, wohnen alte Hausgeister, meistens, so wie früher die Menschen über ihnen, im Familienverband. Man nennt sie hier Grauwichte, Erdbauern oder Vätte, die jetzt auf der einen Seite zufrieden damit sind, allein in diesen alten Häusern zu sein aber es gibt auch Geister, die irgendwann einsame Wanderer einladen, ihre Besitztümer zu besichtigen. Jetzt ist mir auch bewusst, was mich so magisch in dieses Haus zog. Ich glaube, auf einem der Fotos aus den Innenräumen ist einer der scheuen Grauwichte zu sehen. Ihr müsst nur genau hinsehen.
Für Wanderer oder Abenteurer, die zufällig auf solche Häuser stoßen, ist der Anblick faszinierend und bedrückend zugleich. Die Frage drängt sich auf: Was bewegte die Bewohner dazu, mitten im Prozess des Aufräumens einfach aufzuhören und zu verschwinden? Die Antwort bleibt verborgen, versteckt in den stillen Wäldern, während die verlassenen Häuser leise weiter verfallen und die Zeit ihre Spuren hinterlässt.
In einem Zimmer des Hauses hängt eine eingerahmte kleine Sammlung aus dem schwedischen „Sprüchebeutel“.
Zusammengefasst lässt es sich so übersetzen:
Bleib ruhig und gelassen.
Eines nach dem Anderen.
Leben und leben lassen.
Mach es einfach.
Diese Weisheiten repräsentieren Lebensmaximen, die in Schweden geschätzt sind. Besonders die Kombination aus Gelassenheit und Pragmatismus spiegelt die typisch schwedische Mentalität wider: entspannt, pragmatisch und auf Einfachheit bedacht.
Vielleicht erklärt das auch den Zustand des Hauses: „Wenn es keinen Spaß mehr macht, widme dich wichtigeren Dingen.“
Zu Beginn meines Textes erwähnte ich, dass es in unserer Umgebung mehrere verfallende Häuser gibt. Vor etwa zwei Jahren zählte ich insgesamt sechs solcher Gebäude. Inzwischen ist in die Hälfte von ihnen wieder neues Leben eingezogen. Mit viel Eigeninitiative und bewundernswerter Geduld wurden die maroden Häuser entweder teilweise abgerissen und entkernt oder vollständig saniert. Dabei entstanden Neubauten in traditioneller Schwedenhaus-Optik. Zufahrtswege wurden reaktiviert, die Stromversorgung wiederhergestellt, und nun füllen junge Familien diese Häuser erneut mit Leben.
Die verbleibenden Gebäude hingegen scheinen ihrem unvermeidlichen Verfall tatenlos entgegenzusehen.
Fotos: Joachim Seipolt